Wieder in Bosnien, wieder in Velika Kladuša und Bihać. Die Straßen, Geschäfte und der Gebirgsfluss Una, wecken Erinnerung an unsere Hilfsfahrt im letzten Jahr. Heute wie damals wollen wir den gestrandeten Geflüchteten auf der Balkanroute im Kanton Una Sana helfen.
Was im Vergleich zu letztem Jahr unverändert bleibt, ist die Verzweiflung der Geflüchteten, die hier stranden. Nach ihrer meist jahrelangen Flucht werden die Menschen an der Außengrenze der EU brutal gestoppt. Brutal deswegen, weil die kroatische Polizei die Geflüchteten immer wieder misshandelt, ihre Smartphones, die der Navigation dienen, zerstört und Schuhe und Rucksäcke vor ihren Augen verbrennt.
Was sich verschlimmert hat, ist, dass die Abneigung vieler Einheimischer gegenüber den Geflüchteten gewachsen ist. Im letzten Jahr haben wir noch eine große Hilfsbereitschaft wahrgenommen. Viele Bosnier*innen unterstützten die Geflüchteten, auch wenn sie oft selbst wenig besitzen. Ein Jahr später macht sich zunehmend Frust breit. Frust über die EU-Politik, die illegalen Abschiebungen nach Bosnien und die steigende Zahl von Geflüchteten, die in leerstehenden Häusern, im Wald und in Ruinen leben, weil die offiziellen Lager überfüllt sind. 4.000 Lagerplätzen stehen geschätzt 10.000 Geflüchtete gegenüber.
Situation der Geflüchteten
Im Sommer hatten die örtlichen Behörden begonnen, Migranten aus dem Stadtgebiet auf die Mülldeponie Vučjak zu deportieren. Dort entstand ein improvisiertes Camp, in dem es an allem fehlte: An sanitären Einrichtungen, Verpflegung, medizinischer Versorgung und Elektrizität. Von Beginn an war das Camp ein humanitäres Desaster. Nachdem die Situation sich mit dem einsetzenden Winter immer mehr verschärfte, wurde das Lager Anfang Dezember endlich geschlossen. Die Schließung hatte jedoch nicht nur positive Folgen.
Nur ein Teil der Menschen, die in Vučjak untergebracht waren, ist mit den Bussen der Behörden in die neu eröffneten Lager in der Nähe der bosnischen Hauptstadt Sarajevo gebracht worden. Ziel der Geflüchteten ist die EU, weil sie hoffen, dort eine Chance auf Schutz vor Verfolgung und auf ein menschenwürdigeres Leben zu haben. Die neuen Lager bei Sarajevo sind 300 km weiter im Landesinneren und damit weit von der kroatischen Grenze entfernt. Die Lager der International Organization for Migration (IOM), im Una-Sana Kanton sind überfüllt. Viele der Migranten entscheiden sich, trotz des bedrohlichen bosnischen Winters im Norden Bosniens zu bleiben.
Obdachlose Geflüchtete sind im Stadtbild von Velika Kladuša und Bihać überall präsent. Für die, die ohne Obdach sind und auf der Straße, in Industrie-Ruinen, verlassenen Rohbauten ohne Türen und Fenster oder zu Wuchermieten in unbeheizten Wohnungen hausen, wird der bosnische Winter zur lebensbedrohlichen Gefahr.
Die Flüchtlinge sind auf die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung angewiesen. Schon jetzt können die wenigen privaten Helfer*innen den Bedarf an Unterstützung nur in Bruchteilen abdecken und arbeiten selbst oft am Rande der Erschöpfung. Wenn der Winter vorbei ist, ist zudem damit zu rechnen, dass viele Migranten zurück in das grenznahe Una-Sana-Kanton strömen, um zu versuchen, die Grenze zur EU zu überqueren und sich die Lage weiter zuspitzt.
Viele der geflüchteten Menschen leben in ständiger Angst, wieder von den örtlichen Behörden vertrieben zu werden. Als wir zum Abendessen bei einer Gruppe Pakistani eingeladen sind, die das Glück haben, in einem kleinen Haus ohne Heizung in der Stadt leben zu können, erzählt uns ein junger Mann, dass sie Angst haben, das Haus zu verlassen. Sie befürchten von Spezialkräften der bosnischen Polizei misshandelt und verjagt zu werden. „They beat us like animals. They don’t talk to us, they just beat. We are no animals. How can they not see that?“, fragt der junge Mann mit Tränen in den Augen. Er erzählt, dass sein kleiner 14-jähriger Bruder oft weint. Er möchte raus spielen, Sport machen und zur Schule gehen. Stattdessen ist er gezwungen untätig in einer ungeheizten Wohnung auszuharren. In ständiger Angst, dass ihnen auch diese Wohnung nicht sicher ist.
Trotz der kalten Nachttemperaturen gehen viele der jungen Männer, aber vereinzelt auch ganze Familien immer wieder „on the Game“. So nennen sie die Versuche, die kroatische Grenze, die auf dem verschneiten Grat der Berge um Bihać verläuft, zu überqueren und sich über Slowenien nach Triest oder Österreich durchzuschlagen.
Das „Game“ ist nicht nur auf Grund der eisigen Temperaturen ein gefährliches Unterfangen. Die kroatische sowie die slowenische Polizei fängt den größten Teil der Flüchtenden in den Bergen und Wäldern im Grenzgebiet ab, packen sie in Transporter und fahren sie zurück an die bosnische Grenze, wo sie dazu gezwungen werden, die EU wieder zu verlassen. Oft geschieht dies mit Gewalt. Die zahlreichen Verletzungen, mit denen die Geflüchteten vom „Game“ zurückkehren sprechen eine eindeutige Sprache. Die Helfer haben es hier vor allem mit Blutergüssen, Platzwunden und Knochenbrüchen zu tun, die als das Werk von Polizeiknüppeln zu erkennen sind.
Situation der Helfenden
Unsere Arbeit fokussiert sich auf die Unterstützung von lokalen Helfer*innen. Es sind die wahren Held*innen in einer ansonsten ruhmlosen Zeit, die sich auch noch dann für Geflüchtete einsetzen, wenn die Journalist*innen nicht mehr über die Situation auf dem Balkan berichten werden und internationale Helfer*innen, wie wir, wieder nach Hause gefahren sind. Die wenigen übrig gebliebenen Helfer*innen arbeiten derzeit jenseits ihrer Belastungsgrenze.
Sie sind oft die letzte Anlaufstelle für die Migrant*innen, denn außerhalb der offiziellen Lager gibt es keine Unterstützung der Menschen. Es gibt keine Möglichkeit, sich zu waschen, warme Kleidung, Schlafsäcke oder gar Essen zu erhalten. Öffentliche Wohlfahrtseinrichtungen sucht man umsonst. Bosnien befindet sich weit abgeschlagen von der Prosperität der Europäischen Union. Das Durchschnittseinkommen beläuft sich auf 405 Euro Brutto monatlich. Umso tragischer ist, dass die Hilfe für Geflüchteten hauptsächlich von bosnischen Privatpersonen abhängt.
Im bosnischen Kanton Una Sana, der am stärksten von der Flüchtlingskrise betroffen ist, heizt sich zusätzlich die Stimmung gegen die Migranten zunehmend auf. Lokale Politiker wettern gegen die Abschottungspolitik der EU, aber auch gegen die Migranten selbst und ihre Helfer*innen. Mit dem aufflammenden Hass gegen die Migranten schmilzt der Kreis der Helfer*innen. Der Ton wird rauer und die Arbeit für die lokalen Helfer*innen zunehmend gefährlicher.
In den zwei Wochen, die wir da sind, versuchen wir den Helfer*innen unter die Arme zu greifen. Nach 1,5 Jahren Akkordarbeit wollen wir Ihnen eine kurze Atempause ermöglichen, wobei dies kaum möglich ist. Es sind zu wenige Helfer*innen und zu viele Bedürftige.
Das Arbeiten wird immer schwieriger. Essens- und Kleiderausgaben müssen meistens im Schutz der Dunkelheit passieren. Die Polizei schikaniert die Hilfe und versucht, sie ohne Anlass zu unterbinden. Das Problem: Die Temperaturen sind zu niedrig, warme Einrichtungen nicht vorhanden und die meisten Migranten nach ihrer mehrjährigen Flucht mittellos, um sich Essen und Getränke selber zu kaufen. Deshalb machen sie unermüdlich weiter.
Es sind diese rührenden Geschichten, wie beispielsweise die von Zehida, die jede freie Minute außerhalb ihrer Lehrertätigkeit für die Migranten opfert. Ihr bescheidenes Gehalt von umgerechnet ca. 450 Euro gibt sie für das Essen der Migranten aus. Ihr Wunsch: Die Menschen sollen den Winter überleben und sie weiß, dass es dafür auf sie ankommt.
Sogar Hilfen, wie die eines Barbesitzers, der in seiner Bar Migranten sich aufwärmen lässt, günstigen Tee verkauft und sie ihre Smartphones aufladen lässt, wird von den Behörden schikaniert. Fast wöchentlich kommen Strafzahlungen für die aberwitzigsten Dinge. Die einzige Möglichkeit, weitere Strafen zu umgehen, wäre es den Kollegen gleich zu tun und ein Schild mit dem Satz an die Tür zu hängen, den man mittlerweile häufig ließt: „Entry for migrants forbidden“. Der Barbesitzer ist ein pensionierter Polizist und Soldat mit kleiner Rente. Trotz Geldschulden und der Last der Verfahren, kämpft er stoisch weiter.
Die Lage in Bosnien hat sich seit letztem Jahr dramatisch verändert. Wer jetzt noch hilft, lebt mit einem enormen Risiko. Die Menschen werden ohne Anlass von der Polizei kontrolliert, in den Sozialen Netzwerken diffamiert und immer häufiger auch öffentlich auf der Straße angegangen.
Es ist zu befürchten, dass die feindselige Haltung gegenüber den Migranten in Zukunft immer häufiger in offenen Hass mündet. Außerhalb der kleinen Helferszene begegnen uns vor allem skeptische bis feindliche Stimmen gegenüber den Geflüchteten und den Menschen, die sich dafür einsetzen, die unmittelbare Not zu lindern. Langsam wird auch den politischen Stimmen, die gegen die Geflüchteten und die wenigen verbliebenen Helfer wettern, vermehrt Gehör geschenkt. Aus Verzweiflung wird Hass.
Zusammenfassung unserer Arbeit
Wir haben in der vergangenen Woche, die wir bereits vor Ort sind, weit mehr als sechzig verschiedene Kontakte und Interviews mit Geflüchteten, Einheimischen und Helfern gehabt. Unser Eindrücke von der Lage vor Ort sind chaotisch. Die Bosnischen Behörden scheinen überfordert. Es fehlt offenbar eine ganzheitliche Strategie, wie die Menschen menschenwürdig untergebracht werden können. Anstelle dessen tritt eine brutale Abschreckungspolitik. Was dann aber mit den auf der Flucht gestrandeten Menschen passieren soll, bleibt unklar. Ohne die private Hilfe gäbe es bei den kalten Temperaturen, der fehlenden medizinischen Versorgung und dem fehlenden Zugang zu Nahrung schnell noch mehr Todesopfer als die, die schon jetzt immer wieder zu beklagen sind. Anscheinend wird dies jedoch billigend in Kauf genommen.
Der Fokus unserer Arbeit liegt daher darauf, die Arbeit der Helfer*innen vor Ort zu unterstützen. Dies bedeutet, dass wir beispielsweise mit ihnen gemeinsam in kalte Ruinen gehen, wo wir Menschen vorfinden, diese mit Kleidung und Nahrung auszustatten und -wenn es denn möglich ist- behelfsmäßige Öfen installieren.
Wir wollen an der Stelle nochmal allen Spender*innen danken, die die Arbeit hier vor Ort erst möglich gemacht haben. Für die, die uns noch unterstützen wollen sei angemerkt, dass das Spendenkonto noch bis zum 10.01.2020 geöffnet ist.
Hier harrt eine Gruppe aus Pakistan den Winter aus. © Giorgio Morra
Danke für den Bericht und vor allem für die Hilfe ♥️.
Denke oft daran, was kommen muss, damit „Europa“ umdenkt.
Alles Gute!